Der Urteilsspruch war historisch: Ende 2020 verurteilte ein Richter am Landgericht Ulm fünf junge Angeklagte wegen Vertreibung bzw. schwerer Nötigung mit antiziganistischer Tatmotivation. Ein Jahr zuvor hatten die Jugendlichen oder jungen Erwachsenen eine brennende Fackel in einem Dorf in der Nähe von Ulm auf einen Wohnwagen geworfen, in dem eine Mutter mit ihrem neun Monate alten Baby schlief. Die Fackel verfehlte nur knapp ihr Ziel. In der Folge flüchteten über 45 Personen, die einen Stellplatz gemietet und wegen Ausübung ihres Gewerbes campiert hatten. Die antiziganistische Stimmung im Dorf hatte die Angeklagten motiviert der Hetze Taten folgen zu lassen. Vier der fünf Angeklagten befanden sich über 10 Monate lang in Untersuchungshaft – der fünfte und jüngste unter ihnen viereinhalb Wochen. Während der 16 Prozesstage wurde über die Gesinnung der Angeklagten, ihre angebliche Distanzierung zur Tat und eine gerechte, aber auch pädagogisch sinnvolle Strafe verhandelt. Die Vertreter*innen der Jugendgerichtshilfe forderten im Prozess sechsmonatige Maßnahmen zur Tataufarbeitung: beispielsweise durch Gespräche im Demokratiezentrum in Baden-Württemberg und durch die Aufgabe, zehn bis fünfzehnseitige Aufsätze zu schreiben, in denen die Taten reflektiert werden sollten. Ihre Vorschläge befassten sich u.a. mit einem möglichen Besuch in der KZ-Gedenkstätte Dachau, mit einem Fußball-Stadienverbot und mit der Vorgabe einer wiederholten Reflexion der Tat nach Ablauf eines Zeitraums von ca. einem halben Jahr – wieder durch Anfertigung eines Aufsatzes. Der Nebenklageanwalt Dr. Mehmet Daimagüler – seit 2022 Antiziganismusbeauftragter der Bundesregierung – forderte u.a. in seinem Abschlussplädoyer vor Gericht, dass die Angeklagten über zwei Jahre lang die Stolpersteine in Ulm putzen sollten. Die Initiative „Stolpersteine Ulm“ wendete sich noch vor der Verurteilung gegen diesen Vorschlag. Das regelmäßige, freiwillige Putzen der Stolpersteine sei ein Akt des Gedenkens und ein Ausdruck des Respekts gegenüber den Ermordeten. Eine Verbindung mit einer Strafmaßnahme würden sie ablehnen. Die Gruppe sprach sich präventiv auch gegen eine unfreiwillige Teilnahme der Täter an einer öffentlichen Führung der Initiative „Stolpersteine Ulm“ aus[1].
Der Richter trug den Tätern schließlich einen Besuch der KZ-Gedenkstätte Dachau auf. Die Anfertigung eines handschriftlichen zehnseitigen Berichts über den Besuch der Gedenkstätte an die Jugendgerichtshilfen über ihre Eindrücke, Gefühle und Erfahrungen war Teil der Strafzumessung. Die Täter wurden außerdem zu Bewährungsstrafen und Geldstrafen an die Hildegard-Lagrenne Stiftung (Stiftung für Bildung, Inklusion und Teilhabe von Sinti und Roma in Deutschland) verurteilt. 5000 Euro Schmerzensgeld hat der Angeklagter Maximilian P. freiwillig an die betroffene Familie gezahlt, auf deren Wohnwagen die brennende Fackel geworfen worden war. [2]
Besuch der KZ-Gedenkstätte Dachau als Maßnahme in Strafverfahren mit politischer Motivation
Der Diakon der „Evangelischen Versöhnungskirche in der KZ-Gedenkstätte Dachau,“ Frank Schleicher, sind drei der fünf Angeklagten im Gedächtnis geblieben. Die Versöhnungskirche auf dem Gelände übernimmt die Betreuung von politischen Straftätern. Vertreter*innen der Jugendgerichtshilfen und Staatsanwält*innen rufen teilweise vorab in der Versöhnungskirche an, um zu erfragen, ob ein bestimmter Straftäter für eine Betreuung in Frage kommt. Straftäter mit verfestigtem Weltbild lehne Frank Schleicher ab. In seiner Arbeit gehe er nicht von der Möglichkeit einer spontanen Deradikalisierung aus. Er biete eine Reflexion an, die nur Menschen erreichen könne, die noch keine verfestigte Gesinnung haben. Mit Zeitungsartikeln über den Gerichtsprozess in Ulm bereitete er sich auf die Treffen mit den Angeklagten vor. Frank Schleicher führt mit den Straftätern in der Regel auf dem Gelände der KZ-Gedenkstätte ein zweistündiges Gespräch über die Frage: Warum seid ihr hier? Die 1:1 Betreuung, die er anbietet, schätzte er als sehr effektiv ein, auch wenn der Zwang der Strafe erst mal im Widerspruch zum pädagogischen Ziel stehe.
Das Putzen von Stolpersteinen, wie es der Nebenklageanwalt Dr. Mehmet Daimagüler vor Gericht vorschlug, sei eine interessante Maßnahme, die jedoch ohne pädagogische Betreuung, wenn überhaupt, seiner Meinung nach nur für Täter mit verfestigtem Weltbild in Frage käme. Die meisten Fälle, die Diakon Frank Schleicher betreut, stünden im Zusammenhang mit Volksverhetzung. Er stelle immer wieder fest, dass es den Verurteilten an Medienkompetenz fehle, sagte er in einem Interview mit der Autorin. Er erörtere dann mit ihnen beispielsweise, wie Propaganda funktioniere. Bereits vor seiner Arbeit als Diakon in der Versöhnungskirche arbeitete Frank Schleicher in der kirchlichen Jugendarbeit zum Thema Rechtsextremismusprävention. Er ist der einzige in der Versöhnungskirche Dachau, der diese berufliche Erfahrung mitbringt.
(K)eine Auswertung der Maßnahme
Die vom Gericht aufgetragenen handschriftlichen Reflexionsaufsätze wurden mutmaßlich den Jugendgerichtshilfen übergeben. Über den Inhalt und ob diese durch die Jugendgerichtshilfen ausgewertet wurden, ist nichts bekannt. Die Rolle der Jugendgerichtshilfen ist vor Gericht bedeutend. Sie wurden als Zeug*innen angehört, um eine Einschätzung über die Persönlichkeit der Angeklagten abzugeben. Ihre Erklärungen beeinflussten das Strafmaß. Eine Expertise zum Thema Rechtsextremismus wurde vorausgesetzt. Vor Gericht stellte sich allerdings heraus, dass die Expertisen sehr unterschiedlich ausfielen.
Dr. Mehmet Daimagüler, Nebenklageanwalt: Das Thema ‚Rechts-Offenheit‘ in ihrem Gutachten: Haben Sie sich mit dem Angeklagten [Dominik O.] darüber unterhalten, wie er heute dazu steht?
Jugendgerichtshilfe G.: Nein.
Dr. Mehmet Daimagüler: Gibt es einen bestimmten Grund?
Jugendgerichtshilfe G.: Ich schlag vor ihm als Weisung aufzugeben: Wie ist seine Haltung und welche Fachkräfte können diese Aufarbeitung leisten. Ich habe keine Ausbildung in der Thematik und möchte das Fachkräften überlassen.
Dr. Mehmet Daimagüler: Hier hat sich ergeben, dass auch nach der Haftentlassung auf dem Instagrammkanal des Angeklagten das Kürzel 1347 enthalten war, was in der Szene für deutschen Gruß vulgo Hitlergruß steht. Können Sie das bewerten?
Jugendgerichtshilfe: Nein, das kann ich nicht bewerten.
Jugendgerichtshilfe P.: Es stellt sich natürlich auch die Frage, ob schädliche Neigungen vorhanden sind. […] Momentan ist es so, dass […] diese ausländerrechtliche Gesinnung oder die rechte Orientierung vorhanden ist. Zu den Mitangeklagten pflegt [Robin D.] […] Kontakte. Das sind langjährige Freunde von ihm. Diese Freundschaften sind verbunden mit mehr als nur dieser Fußballszene oder dieser ausländerrechtlichen Gesinnung. […] Es war für ihn klar, dass er diesen Kontakt nicht abbrechen möchte.
Dr. Mehmet Daimagüler: Was ist eine ausländerrechtliche Gesinnung?
Jugendgerichtshilfe P.: Ja, ich spreche von einer ausländerrechtlichen Gesinnung und nicht von einer rechten Orientierung: Aber ich kann genauso sagen: Die rechte Orientierung.[3]
Welche „Lehren“ haben die Täter gezogen?
Vier der fünf Angeklagten wird nachgesagt, dass sie weiter in ihrer Freizeit in rechten Kreisen aktiv waren. Zwei Angeklagte (Leo B. und Dominik O.) wurden mutmaßlich im Kampfsportverein Gleis 44 gesehen, der in der rechten Szene in Turnierkämpfen antritt und zwei weitere Angeklagte (Julian F., Robin D.) waren mutmaßlich bei rechten Hooligan-Gruppierungen in Fußballstadien in Ulm und Umgebung anzutreffen. Der Zeuge im Prozess vor dem Langgericht Ulm, Maximilian F., war ein Bekannter der Angeklagten und ist aktuell ein enger Freund des Angeklagten Dominik O. Maximilian F. ist heute ein bekanntes Mitglied der rechtsextremen Gruppierung „Der III. Weg“ und „Anti-Antifa“. „Der III. Weg“ war in Ulm Teil der „Querdenker“-Bewegung. Auch diese wird vom Verfassungsschutz als rechtsextrem eingestuft. Die „Querdenker“-Proteste richteten sich gegen Schutzmaßnahmen zur COVID-19-Pandemie in Deutschland. Auf den Ulmer Demonstrationen wurden zwischen 2021 und 2022 mutmaßlich drei Angeklagte gesehen (Robin D., Dominik O., Julian F.) Der Autorin wurden diese Informationen vertraulich von zwei verschiedenen Quellen aus Ulm und Erbach-Dellmensingen übermittelt. Alle Aktivitäten der Verurteilten datieren aus der Zeit nach der Urteilsverkündung und nach dem Besuch der KZ-Gedenkstätte Dachau.
Welche „Lehre“ hat die Dorfgemeinschaft gezogen?
Etwa ein Jahr nach dem Gerichtsprozess in Ulm tauchte 2021 ein mutmaßlich antisemitisches Graffiti auf einer Brücke in Erbach-Dellmensingen auf – wenige Meter von der Stelle entfernt, wohin die brennende Fackel 2019 gegen den Wohnwagen einer Romni geschleudert wurde. Anders als bei dem antiziganistischen Vorfall wurde sofort und vom Gemeinderat einstimmig reagiert und die Tat „auf das Schärfste“[4] verurteilt. Bürgermeister Gaus: „Die Schmierereien haben vermeintlich antisemitische, beleidigende und hetzerische Inhalte, mit denen die gesamte Dellmensinger Bevölkerung verunglimpft wird. […] Wir werden dieses Verhalten nicht tolerieren und setzen auf die Mithilfe aus der Bevölkerung, um die Täter zur Verantwortung zu ziehen“[5]. In der Darstellungen des Bürgermeisters und des Ortsvorstehers wird der Aspekt betont, dass das Kollektiv zum Opfer werde durch die mutmaßlich tödliche Botschaft an Jüd*innen bzw. durch das Fehlverhalten von Individuen. Der Ortsvorsteher Reinhard Härle sagte gegenüber der Schwäbischen Zeitung: „Dellmensingen habehat? das nicht verdient – schon gar nicht im zeitlichen Zusammenhang mit einer am vergangenen Wochenende in Dellmensingen eröffneten Ausstellung: Darin geht es um das Schloss Dellmensingen 1942, das damals von den Nazis als jüdisches Zwangsaltenheim genutzt wurde. […] Er glaube nicht, dass für die Tat das Umfeld jener jungen Männer in Frage komme, die vergangenes Jahr wegen eines fremdenfeindlichen Angriffs auf eine Roma-Gruppe in Dellmensingen vor Gericht standen und verurteilt wurden: ‚Die dürften ihre Lehren daraus gezogen haben‘“[6].
Die Ermöglichungsstruktur der antiziganistischen Tat in Erbach-Dellmensingen wurde in der Leipziger Autoritarismus Studie von 2020 analysiert. [7] Mehrere Personen aus der Gemeinde hatten sich damals gegen die Anwesenheit der Roma aus Frankreich ausgesprochen und eine Stimmung erzeugt, durch die sich die Angeklagten womöglich legitimiert sahen die Menschen zu vertreiben.
Thomas Prenzel, Stephan Geelhaar und Ulrike Marz bewegen sich in ihrer Analyse über Antiziganismus während des Pogroms in Rostock-Lichtenhagen 1992 in der Tradition des wissenschaftlichen Diskurses über den autoritären Charakter, wenn sie über die „konformistische Revolte“ sprechen. Demnach glauben die „Rebellierenden“ im Sinne der „Herrschenden“ zu handeln[8]. Insofern spiele die sofortige und öffentliche Verurteilung einer politisch motivierten Tat eine wichtige Rolle und sende eine Botschaft an die gesamte Gemeinde. Dies ist wichtig für den gesellschaftlichen Umgang mit der Tat bzw. deren Verarbeitung. Die „schweigende“ Mitte hingegen kann als stillschweigendes Einverständnis oder Ignoranz gedeutet werden und motiviert möglicherweise zu weiteren Taten. Die Verkehrung der Opferrolle in der Aussage des Bürgermeisters und des Ortsvorstehers versucht ein Kollektiv aufzuzeigen, in dem die Täter nicht Teil des Kollektivs sind. Rechtsextremismus jedoch als Einzelfälle abzutun, birgt das Risiko die Entstehungsstruktur und somit eine präventive Handhabung zu verunmöglichen.
Die Verbindung von Strafe und Erziehung
Das Ziel einer Strafe ist den Frieden für alle Beteiligten und eine Art „Rechtsfrieden“ für die Gemeinschaft und die Betroffenen wiederherzustellen. Eine Person durch Strafe zu bessern, bleibt allerdings eine fragwürdige Verbindung von Strafe und Erziehung. Erziehung soll nicht einer Dressur gleichen, sie muss ein natürliches Lernumfeld schaffen, in dem Erfahrungslernen ermöglicht wird. Arbeits‑, Sozialstunden oder Haftstrafen führen nicht unbedingt zu einer Besserung. Dies belegen zahlreiche Studien über Gefängnisinsassen. Bei der Verurteilung von jungen Menschen stellt sich im Besonderen die Frage nach Alternativen, die einen Lebensweg positiv beeinflussen können. Pädagogische Maßnahmen stehen zunächst im Widerspruch mit dem Zwangscharakter einer Strafe und der Stigmatisierung als Straftäter*in. Zwang und Ausgrenzung können die bereits existierenden politischen Weltbilder eines*r Straftäters*in auch verstärken. Die individuelle Betrachtung der Vorfälle bzw. Straftaten ist eine unabdingbare Voraussetzung, um eine geeignete Strafe zu finden. Eine Strafe, die an eine Gesinnung appelliert, muss deren Entstehung und gesellschaftliche Einbettung kennen. In der „Schriftenreihe zu Delinquenzpädagogik und Rechtserziehung“ heißt es zu rechts motivierten Straftaten: „Jugendgewalt kann so interpretiert werden als misslungene Bewältigung eingeschränkter sozialer Fähigkeiten, als Ergebnis von Entfremdungsprozessen und einer damit verbundenen Orientierungslosigkeit und Identitätskrise.“[9] Weiter heißt es: „Durch Aggression gegen den [vermeintlichen] Fremden […] geht man […] der Artikulierung des Konflikts gegenüber dem Einheimischen, dem Vertrauten, aus dem Wege. Die Anonymität der Situation ermöglicht die Degradierung und Entpersönlichung des Opfers.“[10]
Alternative Maßnahmen zur Urteilsfindung sind stärker ausgerichtet an den Bedürfnissen direkter und indirekter Konfliktbeteiligter und stärken im besten Fall die Gemeinschaft. Bei herkömmlichen Gerichtsprozessen wird die Viktimisierung der Opfer und die fehlende Verantwortungsübernahme von Täter*innen oft wiederholt und die Opfer erneut traumatisiert. Das ausgleichende Gerechtigkeitskonzept „restorative Justice“ findet bereits in Modellprojekten im deutschen Strafsystem Anwendung. Sie orientieren sich beispielsweise an „Family Group Conferences (FGC)“, die aus der Maori-Kultur stammen und im neuseeländischen Jugendstrafverfahren mittlerweile fester Bestandteil sind. Im Folgenden werden zwei unterschiedliche Varianten aufgezeigt, die in Deutschland erprobt werden: die Gemeinschaftskonferenzen als Alternative im Rahmen von Strafverfahren und der Familienrat bzw. Verwandtschaftsrat im Rahmen von Jugendhilfeplanung. Die Modelle ergänzen die bereits etablierten Formen des Täter-Opfer-Ausgleichs oder das Gemischte Doppel bei Paarkonflikten und das Staffelrad für ein Opfer und mehrere Täter*innen.[11] Die Gemeinschaftskonferenz wurde u.a. bei Delikten wie Volksverhetzung und Beleidigung, durchgeführt mit dem Ziel Vorurteile und Stereotypen abzubauen. Alle Modelle beruhen auf der Freiwilligkeit aller Beteiligten und haben das Ziel Leid zu reduzieren, die Bedürfnisse von Opfern und Täter*innen zu berücksichtigen sowie zukunftsorientiert den sozialen Frieden wiederherzustellen.
In der Gemeinschaftskonferenz begegnen sich die jugendlichen Opfer und Täter*innen, ihre Familien oder Unterstützer*innen, ggf. Anwält*innen oder Sozialarbeiter*innen, eine neutrale Moderation und eine*n Polizist*in. Der Ablauf der Gemeinschaftskonferenz wird von der Rechtswissenschaftlerin Gaby Temme wie folgt beschrieben: „1. Einführung und Vorstellungsrunde, 2. Darstellung des Tathergangs durch den Polizeibeamten und im Anschluss Austausch der Beteiligten über ihre Sichtweisen, 3. Allgemeine Diskussion über die Tat, Ursachen, Wiedergutmachungsmöglichkeiten [, Wünsche und Erwartungen], 4. Jugendlicher wird mit seiner Familie allein gelassen, um einen Lösungsvorschlag zu entwickeln, 5. Gesamte Konferenz diskutiert den Vorschlag [und unterschreibt im Anschluss eine Vereinbarung], gegebenenfalls wird über weitere Empfehlungen an das Gericht nachgedacht.“
Lösungen, die auf Gemeinschaftskonferenzen erarbeitet wurden, sind beispielsweise: „materieller Schadensersatz, Zahlung eines Geldbetrages an gemeinnützige Einrichtung mit Bezug zur Tat, Geschenk an die geschädigte Person, ausdrückliche Respektierung des anderen, Einladung zum Essen, Inanspruchnahme der Hilfe des Jugendamtes, Teilnahme an einem sozialen Trainingskurs oder Drogen-/Suchtberatung, regelmäßiges Sporttraining über einen Zeitraum von sechs Monaten, Praktikum auf der Arbeitsstelle der geschädigten Person.“[12] Nicht immer zeigen die Räte und Konferenzen das gewünschte Ziel, was auf verschiedene Faktoren zurückzuführen ist – beispielsweise, wenn dem*der Täter*in Unterstützer*innen fehlen.
Fazit
Während des Prozesses beim Landgericht Ulm ließ sich beobachten, dass die Untersuchungshaft alle fünf Angeklagte emotional beschäftigte. Ob diese Tatsache einen Einfluss auf die politische Haltung der Angeklagten hatte oder als Abschreckung wirkte, kann nicht umfassend geklärt werden. Vor Gericht zeigte ein Angeklagter glaubhaft Reue. Die Aktivitäten der anderen vier Angeklagten nach dem Urteil lassen darauf schließen, dass diese sich ungebrochen und weiterhin in rechtsextremen Milieus bewegen oder Freundschaften dorthin pflegen. Die Jugendgerichtshilfen hatten vor Gericht betont, dass eine mehrmalige Aufarbeitung der Tat sinnvoll sei. Die Verurteilung zu einem zweistündigen Treffen mit einem Diakon aus der Versöhnungskirche der KZ-Gedenkstätte Dachau kann nur als Anregung zu verstehen sein. Eine tiefergehende Auseinandersetzung wurde und konnte nicht angeboten werden. Ein Täter-Opfer Ausgleich, der eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Tat bedeutet hätte, war nicht möglich oder wurde nicht in Betracht gezogen. Die Opfer waren nicht wohnhaft in Deutschland und konnten oder wollten dem Verfahren nicht persönlich beiwohnen.
Dennoch lässt sich feststellen, dass die Dorfgemeinde geschulter mit einer erneuten mutmaßlichen rechtsmotivierten Tat in der Gemeinde umgegangen ist. Die öffentliche Auseinandersetzung, die während des Prozesses 2020 mit dem Bürgermeister und dem Ortsvorstehen und u.a. mit dem Verband Deutscher Sinti und Roma, Landesverband Baden-Württemberg (VDSR-BW), der die Opfer vertreten hat, geführt wurde, hat zu einem Problembewusstsein beigetragen. Im Nachgang zum Prozess erschienen Publikationen, die heute in Polizeifortbildungen vom VDSR-BW genutzt werden. Es fanden verschiedene öffentliche Veranstaltungen statt, und ein Nachrichtensender der Minderheit, RomnoKher News, wurde ins Leben gerufen. Die Erfahrung, dass das Gericht die Gültigkeit dessen, was man gemeinhin Gerechtigkeit nennt, für Angehörige der Sinti- und Roma-Community achtete und eine Straftat dementsprechend bewertete, das wirkt über den konkreten Fall hinaus als ein politisches Signal in der Community fort.
[1] Dischereit, Chana (2024): Unveröffentlichtes Manuskript.
[2] Andreasch, R. (2020). Unveröffentlichtes Manuskript.
[3] Ebenda
[4] Amtsblatt der Stadt Erbach mit den Stadtteilen Bach, Dellmensingen, Donaurieden, Ersingen, Ringingen (07.10.2021): Erbacher Nachrichten, Nummer 40 / Jahrgang 62, Erbach S. 4.
[5] Ebenda
[6] Ebenda
[7] Ausführlicher Bericht über die antiziganistische Tat und deren Aufarbeitung können nachgelesen werden in der Studie von Oliver Decker und Elmar Brähler (2020): Autoritäre Dynamiken: Alte Ressentiments – neue Radikalität, Leipziger Autoritarismus Studie, Gießen S. 353 – 378.
[8] Prenzel et al., 2013, S. 148ff.
[9] Kube, Edwin (1995): Gewaltkriminalität Jugendlicher. Möglichkeiten und Chancen der Gewaltprävention. In: Sozialpädagogik und Strafrechtspflege. Gedächtnisschrift für Max Busch. In: Delinquenzpädagogik und Rechtserziehung, Band 9, Pfaffenweiler S. 235.
[10] Kube, Edwin (1995): Gewaltkriminalität Jugendlicher. Möglichkeiten und Chancen der Gewaltprävention. In: Sozialpädagogik und Strafrechtspflege. Gedächtnisschrift für Max Busch. In: Delinquenzpädagogik und Rechtserziehung, Band 9, Pfaffenweiler S. 235 – 236.
[11] Temme, Gaby (2011): Braucht unsere Gesellschaft Strafe? Welche Alternativen gibt es im Vergleich zum deutschen Strafvollzugssystem? In: Strafvollzug in Deutschland. Strukturelle Defizite, Reformbedarf und Alternativen, Berlin S. 37–61: https://www.humanistische-union.de/thema/braucht-unsere-gesellschaft-strafe-welche-alternativen-gibt-es-im-vergleich-zum-deutschen-strafvol/; zuletzt 28.08.2024.
[12] Ebenda