Antiziganismus anzeigen und was dann? Fünf Jahre nach einem Prozess wegen gewaltsamer Vertreibung
Antiziganismus anzeigen und was dann? Fünf Jahre nach einem Prozess wegen gewaltsamer Vertreibung
Von Chana Dischereit
Von Chana Dischereit

Der Urteils­spruch war his­to­risch: Ende 2020 ver­ur­teil­te ein Rich­ter am Land­ge­richt Ulm fünf jun­ge Ange­klag­te wegen Ver­trei­bung bzw. schwe­rer Nöti­gung mit anti­zi­ga­nis­ti­scher Tat­mo­ti­va­ti­on. Ein Jahr zuvor hat­ten die Jugend­li­chen oder jun­gen Erwach­se­nen eine bren­nen­de Fackel in einem Dorf in der Nähe von Ulm auf einen Wohn­wa­gen gewor­fen, in dem eine Mut­ter mit ihrem neun Mona­te alten Baby schlief. Die Fackel ver­fehl­te nur knapp ihr Ziel. In der Fol­ge flüch­te­ten über 45 Per­so­nen, die einen Stell­platz gemie­tet und wegen Aus­übung ihres Gewer­bes cam­piert hat­ten. Die anti­zi­ga­nis­ti­sche Stim­mung im Dorf hat­te die Ange­klag­ten moti­viert der Het­ze Taten fol­gen zu las­sen. Vier der fünf Ange­klag­ten befan­den sich über 10 Mona­te lang in Unter­su­chungs­haft – der fünf­te und jüngs­te unter ihnen vier­ein­halb Wochen. Wäh­rend der 16 Pro­zess­ta­ge wur­de über die Gesin­nung der Ange­klag­ten, ihre angeb­li­che Distan­zie­rung zur Tat und eine gerech­te, aber auch päd­ago­gisch sinn­vol­le Stra­fe ver­han­delt. Die Vertreter*innen der Jugend­ge­richts­hil­fe for­der­ten im Pro­zess sechs­mo­na­ti­ge Maß­nah­men zur Tat­auf­ar­bei­tung: bei­spiels­wei­se durch Gesprä­che im Demo­kra­tie­zen­trum in Baden-Würt­tem­berg und durch die Auf­ga­be, zehn bis fünf­zehn­sei­ti­ge Auf­sät­ze zu schrei­ben, in denen die Taten reflek­tiert wer­den soll­ten. Ihre Vor­schlä­ge befass­ten sich u.a. mit einem mög­li­chen Besuch in der KZ-Gedenk­stät­te Dach­au, mit einem Fuß­ball-Sta­di­en­ver­bot und mit der Vor­ga­be einer wie­der­hol­ten Refle­xi­on der Tat nach Ablauf eines Zeit­raums von ca. einem hal­ben Jahr – wie­der durch Anfer­ti­gung eines Auf­sat­zes. Der Neben­kla­ge­an­walt Dr. Meh­met Dai­ma­gü­ler – seit 2022 Anti­zi­ga­nis­mus­be­auf­trag­ter der Bun­des­re­gie­rung – for­der­te u.a. in sei­nem Abschluss­plä­doy­er vor Gericht, dass die Ange­klag­ten über zwei Jah­re lang die Stol­per­stei­ne in Ulm put­zen soll­ten. Die Initia­ti­ve „Stol­per­stei­ne Ulm“ wen­de­te sich noch vor der Ver­ur­tei­lung gegen die­sen Vor­schlag. Das regel­mä­ßi­ge, frei­wil­li­ge Put­zen der Stol­per­stei­ne sei ein Akt des Geden­kens und ein Aus­druck des Respekts gegen­über den Ermor­de­ten. Eine Ver­bin­dung mit einer Straf­maß­nah­me wür­den sie ableh­nen. Die Grup­pe sprach sich prä­ven­tiv auch gegen eine unfrei­wil­li­ge Teil­nah­me der Täter an einer öffent­li­chen Füh­rung der Initia­ti­ve „Stol­per­stei­ne Ulm“ aus[1].

Der Rich­ter trug den Tätern schließ­lich einen Besuch der KZ-Gedenk­stät­te Dach­au auf. Die Anfer­ti­gung eines hand­schrift­li­chen zehn­sei­ti­gen Berichts über den Besuch der Gedenk­stät­te an die Jugend­ge­richts­hil­fen über ihre Ein­drü­cke, Gefüh­le und Erfah­run­gen war Teil der Straf­zu­mes­sung. Die Täter wur­den außer­dem zu Bewäh­rungs­stra­fen und Geld­stra­fen an die Hil­de­gard-Lag­ren­ne Stif­tung (Stif­tung für Bil­dung, Inklu­si­on und Teil­ha­be von Sin­ti und Roma in Deutsch­land) ver­ur­teilt. 5000 Euro Schmer­zens­geld hat der Ange­klag­ter Maxi­mi­li­an P. frei­wil­lig an die betrof­fe­ne Fami­lie gezahlt, auf deren Wohn­wa­gen die bren­nen­de Fackel gewor­fen wor­den war. [2]

Besuch der KZ-Gedenk­stät­te Dach­au als Maß­nah­me in Straf­ver­fah­ren mit poli­ti­scher Motivation

Der Dia­kon der „Evan­ge­li­schen Ver­söh­nungs­kir­che in der KZ-Gedenk­stät­te Dach­au,“ Frank Schlei­cher, sind drei der fünf Ange­klag­ten im Gedächt­nis geblie­ben. Die Ver­söh­nungs­kir­che auf dem Gelän­de über­nimmt die Betreu­ung von poli­ti­schen Straf­tä­tern. Vertreter*innen der Jugend­ge­richts­hil­fen und Staatsanwält*innen rufen teil­wei­se vor­ab in der Ver­söh­nungs­kir­che an, um zu erfra­gen, ob ein bestimm­ter Straf­tä­ter für eine Betreu­ung in Fra­ge kommt. Straf­tä­ter mit ver­fes­tig­tem Welt­bild leh­ne Frank Schlei­cher ab. In sei­ner Arbeit gehe er nicht von der Mög­lich­keit einer spon­ta­nen Dera­di­ka­li­sie­rung aus. Er bie­te eine Refle­xi­on an, die nur Men­schen errei­chen kön­ne, die noch kei­ne ver­fes­tig­te Gesin­nung haben. Mit Zei­tungs­ar­ti­keln über den Gerichts­pro­zess in Ulm berei­te­te er sich auf die Tref­fen mit den Ange­klag­ten vor. Frank Schlei­cher führt mit den Straf­tä­tern in der Regel auf dem Gelän­de der KZ-Gedenk­stät­te ein zwei­stün­di­ges Gespräch über die Fra­ge: War­um seid ihr hier? Die 1:1 Betreu­ung, die er anbie­tet, schätz­te er als sehr effek­tiv ein, auch wenn der Zwang der Stra­fe erst mal im Wider­spruch zum päd­ago­gi­schen Ziel stehe.

Das Put­zen von Stol­per­stei­nen, wie es der Neben­kla­ge­an­walt Dr. Meh­met Dai­ma­gü­ler vor Gericht vor­schlug, sei eine inter­es­san­te Maß­nah­me, die jedoch ohne päd­ago­gi­sche Betreu­ung, wenn über­haupt, sei­ner Mei­nung nach nur für Täter mit ver­fes­tig­tem Welt­bild in Fra­ge käme. Die meis­ten Fäl­le, die Dia­kon Frank Schlei­cher betreut, stün­den im Zusam­men­hang mit Volks­ver­het­zung. Er stel­le immer wie­der fest, dass es den Ver­ur­teil­ten an Medi­en­kom­pe­tenz feh­le, sag­te er in einem Inter­view mit der Autorin. Er erör­te­re dann mit ihnen bei­spiels­wei­se, wie Pro­pa­gan­da funk­tio­nie­re. Bereits vor sei­ner Arbeit als Dia­kon in der Ver­söh­nungs­kir­che arbei­te­te Frank Schlei­cher in der kirch­li­chen Jugend­ar­beit zum The­ma Rechts­extre­mis­mus­prä­ven­ti­on. Er ist der ein­zi­ge in der Ver­söh­nungs­kir­che Dach­au, der die­se beruf­li­che Erfah­rung mitbringt.

(K)eine Aus­wer­tung der Maßnahme

Die vom Gericht auf­ge­tra­ge­nen hand­schrift­li­chen Refle­xi­ons­auf­sät­ze wur­den mut­maß­lich den Jugend­ge­richts­hil­fen über­ge­ben. Über den Inhalt und ob die­se durch die Jugend­ge­richts­hil­fen aus­ge­wer­tet wur­den, ist nichts bekannt. Die Rol­le der Jugend­ge­richts­hil­fen ist vor Gericht bedeu­tend. Sie wur­den als Zeug*innen ange­hört, um eine Ein­schät­zung über die Per­sön­lich­keit der Ange­klag­ten abzu­ge­ben. Ihre Erklä­run­gen beein­fluss­ten das Straf­maß. Eine Exper­ti­se zum The­ma Rechts­extre­mis­mus wur­de vor­aus­ge­setzt. Vor Gericht stell­te sich aller­dings her­aus, dass die Exper­ti­sen sehr unter­schied­lich ausfielen.

Dr. Meh­met Dai­ma­gü­ler, Neben­kla­ge­an­walt: Das The­ma ‚Rechts-Offen­heit‘ in ihrem Gut­ach­ten: Haben Sie sich mit dem Ange­klag­ten [Domi­nik O.] dar­über unter­hal­ten, wie er heu­te dazu steht?

Jugend­ge­richts­hil­fe G.: Nein.

Dr. Meh­met Dai­ma­gü­ler: Gibt es einen bestimm­ten Grund?

Jugend­ge­richts­hil­fe G.: Ich schlag vor ihm als Wei­sung auf­zu­ge­ben: Wie ist sei­ne Hal­tung und wel­che Fach­kräf­te kön­nen die­se Auf­ar­bei­tung leis­ten. Ich habe kei­ne Aus­bil­dung in der The­ma­tik und möch­te das Fach­kräf­ten überlassen.

Dr. Meh­met Dai­ma­gü­ler: Hier hat sich erge­ben, dass auch nach der Haft­ent­las­sung auf dem Insta­gramm­ka­nal des Ange­klag­ten das Kür­zel 1347 ent­hal­ten war, was in der Sze­ne für deut­schen Gruß vul­go Hit­ler­gruß steht. Kön­nen Sie das bewerten?

Jugend­ge­richts­hil­fe: Nein, das kann ich nicht bewerten.

Jugend­ge­richts­hil­fe P.: Es stellt sich natür­lich auch die Fra­ge, ob schäd­li­che Nei­gun­gen vor­han­den sind. […] Momen­tan ist es so, dass […] die­se aus­län­der­recht­li­che Gesin­nung oder die rech­te Ori­en­tie­rung vor­han­den ist. Zu den Mit­an­ge­klag­ten pflegt [Robin D.] […] Kon­tak­te. Das sind lang­jäh­ri­ge Freun­de von ihm. Die­se Freund­schaf­ten sind ver­bun­den mit mehr als nur die­ser Fuß­ball­sze­ne oder die­ser aus­län­der­recht­li­chen Gesin­nung. […] Es war für ihn klar, dass er die­sen Kon­takt nicht abbre­chen möchte.

Dr. Meh­met Dai­ma­gü­ler: Was ist eine aus­län­der­recht­li­che Gesinnung?

Jugend­ge­richts­hil­fe P.: Ja, ich spre­che von einer aus­län­der­recht­li­chen Gesin­nung und nicht von einer rech­ten Ori­en­tie­rung: Aber ich kann genau­so sagen: Die rech­te Ori­en­tie­rung.[3]

Wel­che „Leh­ren“ haben die Täter gezogen?

Vier der fünf Ange­klag­ten wird nach­ge­sagt, dass sie wei­ter in ihrer Frei­zeit in rech­ten Krei­sen aktiv waren. Zwei Ange­klag­te (Leo B. und Domi­nik O.) wur­den mut­maß­lich im Kampf­sport­ver­ein Gleis 44 gese­hen, der in der rech­ten Sze­ne in Tur­nier­kämp­fen antritt und zwei wei­te­re Ange­klag­te (Juli­an F., Robin D.) waren mut­maß­lich bei rech­ten Hoo­li­gan-Grup­pie­run­gen in Fuß­ball­sta­di­en in Ulm und Umge­bung anzu­tref­fen. Der Zeu­ge im Pro­zess vor dem Lang­ge­richt Ulm, Maxi­mi­li­an F., war ein Bekann­ter der Ange­klag­ten und ist aktu­ell ein enger Freund des Ange­klag­ten Domi­nik O. Maxi­mi­li­an F. ist heu­te ein bekann­tes Mit­glied der rechts­extre­men Grup­pie­rung „Der III. Weg“ und „Anti-Anti­fa“. „Der III. Weg“ war in Ulm Teil der „Querdenker“-Bewegung. Auch die­se wird vom Ver­fas­sungs­schutz als rechts­extrem ein­ge­stuft. Die „Querdenker“-Proteste rich­te­ten sich gegen Schutz­maß­nah­men zur COVID-19-Pan­de­mie in Deutsch­land. Auf den Ulmer Demons­tra­tio­nen wur­den zwi­schen 2021 und 2022 mut­maß­lich drei Ange­klag­te gese­hen (Robin D., Domi­nik O., Juli­an F.) Der Autorin wur­den die­se Infor­ma­tio­nen ver­trau­lich von zwei ver­schie­de­nen Quel­len aus Ulm und Erbach-Dell­men­sin­gen über­mit­telt. Alle Akti­vi­tä­ten der Ver­ur­teil­ten datie­ren aus der Zeit nach der Urteils­ver­kün­dung und nach dem Besuch der KZ-Gedenk­stät­te Dachau.

Wel­che „Leh­re“ hat die Dorf­ge­mein­schaft gezogen?

Etwa ein Jahr nach dem Gerichts­pro­zess in Ulm tauch­te 2021 ein mut­maß­lich anti­se­mi­ti­sches Graf­fi­ti auf einer Brü­cke in Erbach-Dell­men­sin­gen auf – weni­ge Meter von der Stel­le ent­fernt, wohin die bren­nen­de Fackel 2019 gegen den Wohn­wa­gen einer Rom­ni geschleu­dert wur­de. Anders als bei dem anti­zi­ga­nis­ti­schen Vor­fall wur­de sofort und vom Gemein­de­rat ein­stim­mig reagiert und die Tat „auf das Schärfs­te“[4] ver­ur­teilt. Bür­ger­meis­ter Gaus: „Die Schmie­re­rei­en haben ver­meint­lich anti­se­mi­ti­sche, belei­di­gen­de und het­ze­ri­sche Inhal­te, mit denen die gesam­te Dell­men­sin­ger Bevöl­ke­rung ver­un­glimpft wird. […] Wir wer­den die­ses Ver­hal­ten nicht tole­rie­ren und set­zen auf die Mit­hil­fe aus der Bevöl­ke­rung, um die Täter zur Ver­ant­wor­tung zu zie­hen“[5]. In der Dar­stel­lun­gen des Bür­ger­meis­ters und des Orts­vor­ste­hers wird der Aspekt betont, dass das Kol­lek­tiv zum Opfer wer­de durch die mut­maß­lich töd­li­che Bot­schaft an Jüd*innen bzw. durch das Fehl­ver­hal­ten von Indi­vi­du­en. Der Orts­vor­ste­her Rein­hard Här­le sag­te gegen­über der Schwä­bi­schen Zei­tung: „Dell­men­sin­gen habe­hat? das nicht ver­dient – schon gar nicht im zeit­li­chen Zusam­men­hang mit einer am ver­gan­ge­nen Wochen­en­de in Dell­men­sin­gen eröff­ne­ten Aus­stel­lung: Dar­in geht es um das Schloss Dell­men­sin­gen 1942, das damals von den Nazis als jüdi­sches Zwangs­al­ten­heim genutzt wur­de. […] Er glau­be nicht, dass für die Tat das Umfeld jener jun­gen Män­ner in Fra­ge kom­me, die ver­gan­ge­nes Jahr wegen eines frem­den­feind­li­chen Angriffs auf eine Roma-Grup­pe in Dell­men­sin­gen vor Gericht stan­den und ver­ur­teilt wur­den: ‚Die dürf­ten ihre Leh­ren dar­aus gezo­gen haben‘“[6].

Die Ermög­li­chungs­struk­tur der anti­zi­ga­nis­ti­schen Tat in Erbach-Dell­men­sin­gen wur­de in der Leip­zi­ger Auto­ri­ta­ris­mus Stu­die von 2020 ana­ly­siert. [7] Meh­re­re Per­so­nen aus der Gemein­de hat­ten sich damals gegen die Anwe­sen­heit der Roma aus Frank­reich aus­ge­spro­chen und eine Stim­mung erzeugt, durch die sich die Ange­klag­ten womög­lich legi­ti­miert sahen die Men­schen zu vertreiben.

Tho­mas Pren­zel, Ste­phan Geel­haar und Ulri­ke Marz bewe­gen sich in ihrer Ana­ly­se über Anti­zi­ga­nis­mus wäh­rend des Pogroms in Ros­tock-Lich­ten­ha­gen 1992 in der Tra­di­ti­on des wis­sen­schaft­li­chen Dis­kur­ses über den auto­ri­tä­ren Cha­rak­ter, wenn sie über die „kon­for­mis­ti­sche Revol­te“ spre­chen. Dem­nach glau­ben die „Rebel­lie­ren­den“ im Sin­ne der „Herr­schen­den“ zu han­deln[8]. Inso­fern spie­le die sofor­ti­ge und öffent­li­che Ver­ur­tei­lung einer poli­tisch moti­vier­ten Tat eine wich­ti­ge Rol­le und sen­de eine Bot­schaft an die gesam­te Gemein­de. Dies ist wich­tig für den gesell­schaft­li­chen Umgang mit der Tat bzw. deren Ver­ar­bei­tung. Die „schwei­gen­de“ Mit­te hin­ge­gen kann als still­schwei­gen­des Ein­ver­ständ­nis oder Igno­ranz gedeu­tet wer­den und moti­viert mög­li­cher­wei­se zu wei­te­ren Taten. Die Ver­keh­rung der Opfer­rol­le in der Aus­sa­ge des Bür­ger­meis­ters und des Orts­vor­ste­hers ver­sucht ein Kol­lek­tiv auf­zu­zei­gen, in dem die Täter nicht Teil des Kol­lek­tivs sind. Rechts­extre­mis­mus jedoch als Ein­zel­fäl­le abzu­tun, birgt das Risi­ko die Ent­ste­hungs­struk­tur und somit eine prä­ven­ti­ve Hand­ha­bung zu ver­un­mög­li­chen.

Die Ver­bin­dung von Stra­fe und Erziehung

Das Ziel einer Stra­fe ist den Frie­den für alle Betei­lig­ten und eine Art „Rechts­frie­den“ für die Gemein­schaft und die Betrof­fe­nen wie­der­her­zu­stel­len. Eine Per­son durch Stra­fe zu bes­sern, bleibt aller­dings eine frag­wür­di­ge Ver­bin­dung von Stra­fe und Erzie­hung. Erzie­hung soll nicht einer Dres­sur glei­chen, sie muss ein natür­li­ches Lern­um­feld schaf­fen, in dem Erfah­rungs­ler­nen ermög­licht wird. Arbeits‑, Sozi­al­stun­den oder Haft­stra­fen füh­ren nicht unbe­dingt zu einer Bes­se­rung. Dies bele­gen zahl­rei­che Stu­di­en über Gefäng­nis­in­sas­sen. Bei der Ver­ur­tei­lung von jun­gen Men­schen stellt sich im Beson­de­ren die Fra­ge nach Alter­na­ti­ven, die einen Lebens­weg posi­tiv beein­flus­sen kön­nen. Päd­ago­gi­sche Maß­nah­men ste­hen zunächst im Wider­spruch mit dem Zwangs­cha­rak­ter einer Stra­fe und der Stig­ma­ti­sie­rung als Straftäter*in. Zwang und Aus­gren­zung kön­nen die bereits exis­tie­ren­den poli­ti­schen Welt­bil­der eines*r Straftäters*in auch ver­stär­ken. Die indi­vi­du­el­le Betrach­tung der Vor­fäl­le bzw. Straf­ta­ten ist eine unab­ding­ba­re Vor­aus­set­zung, um eine geeig­ne­te Stra­fe zu fin­den. Eine Stra­fe, die an eine Gesin­nung appel­liert, muss deren Ent­ste­hung und gesell­schaft­li­che Ein­bet­tung ken­nen. In der „Schrif­ten­rei­he zu Delin­quenz­päd­ago­gik und Rechts­er­zie­hung“ heißt es zu rechts moti­vier­ten Straf­ta­ten: „Jugend­ge­walt kann so inter­pre­tiert wer­den als miss­lun­ge­ne Bewäl­ti­gung ein­ge­schränk­ter sozia­ler Fähig­kei­ten, als Ergeb­nis von Ent­frem­dungs­pro­zes­sen und einer damit ver­bun­de­nen Ori­en­tie­rungs­lo­sig­keit und Iden­ti­täts­kri­se.“[9] Wei­ter heißt es: „Durch Aggres­si­on gegen den [ver­meint­li­chen] Frem­den […] geht man […] der Arti­ku­lie­rung des Kon­flikts gegen­über dem Ein­hei­mi­schen, dem Ver­trau­ten, aus dem Wege. Die Anony­mi­tät der Situa­ti­on ermög­licht die Degra­die­rung und Ent­per­sön­li­chung des Opfers.“[10]

Alter­na­ti­ve Maß­nah­men zur Urteils­fin­dung sind stär­ker aus­ge­rich­tet an den Bedürf­nis­sen direk­ter und indi­rek­ter Kon­flikt­be­tei­lig­ter und stär­ken im bes­ten Fall die Gemein­schaft. Bei her­kömm­li­chen Gerichts­pro­zes­sen wird die Vik­ti­mi­sie­rung der Opfer und die feh­len­de Ver­ant­wor­tungs­über­nah­me von Täter*innen oft wie­der­holt und die Opfer erneut trau­ma­ti­siert. Das aus­glei­chen­de Gerech­tig­keits­kon­zept „res­to­ra­ti­ve Jus­ti­ce“ fin­det bereits in Modell­pro­jek­ten im deut­schen Straf­sys­tem Anwen­dung. Sie ori­en­tie­ren sich bei­spiels­wei­se an „Fami­ly Group Con­fe­ren­ces (FGC)“, die aus der Mao­ri-Kul­tur stam­men und im neu­see­län­di­schen Jugend­straf­ver­fah­ren mitt­ler­wei­le fes­ter Bestand­teil sind. Im Fol­gen­den wer­den zwei unter­schied­li­che Vari­an­ten auf­ge­zeigt, die in Deutsch­land erprobt wer­den: die Gemein­schafts­kon­fe­ren­zen als Alter­na­ti­ve im Rah­men von Straf­ver­fah­ren und der Fami­li­en­rat bzw. Ver­wandt­schafts­rat im Rah­men von Jugend­hil­fe­pla­nung. Die Model­le ergän­zen die bereits eta­blier­ten For­men des Täter-Opfer-Aus­gleichs oder das Gemisch­te Dop­pel bei Paar­kon­flik­ten und das Staf­fel­rad für ein Opfer und meh­re­re Täter*innen.[11] Die Gemein­schafts­kon­fe­renz wur­de u.a. bei Delik­ten wie Volks­ver­het­zung und Belei­di­gung, durch­ge­führt mit dem Ziel Vor­ur­tei­le und Ste­reo­ty­pen abzu­bau­en. Alle Model­le beru­hen auf der Frei­wil­lig­keit aller Betei­lig­ten und haben das Ziel Leid zu redu­zie­ren, die Bedürf­nis­se von Opfern und Täter*innen zu berück­sich­ti­gen sowie zukunfts­ori­en­tiert den sozia­len Frie­den wiederherzustellen.

In der Gemein­schafts­kon­fe­renz begeg­nen sich die jugend­li­chen Opfer und Täter*innen, ihre Fami­li­en oder Unterstützer*innen, ggf. Anwält*innen oder Sozialarbeiter*innen, eine neu­tra­le Mode­ra­ti­on und eine*n Polizist*in. Der Ablauf der Gemein­schafts­kon­fe­renz wird von der Rechts­wis­sen­schaft­le­rin Gaby Tem­me wie folgt beschrie­ben: „1. Ein­füh­rung und Vor­stel­lungs­run­de, 2. Dar­stel­lung des Tat­her­gangs durch den Poli­zei­be­am­ten und im Anschluss Aus­tausch der Betei­lig­ten über ihre Sicht­wei­sen, 3. All­ge­mei­ne Dis­kus­si­on über die Tat, Ursa­chen, Wie­der­gut­ma­chungs­mög­lich­kei­ten [, Wün­sche und Erwar­tun­gen], 4. Jugend­li­cher wird mit sei­ner Fami­lie allein gelas­sen, um einen Lösungs­vor­schlag zu ent­wi­ckeln, 5. Gesam­te Kon­fe­renz dis­ku­tiert den Vor­schlag [und unter­schreibt im Anschluss eine Ver­ein­ba­rung], gege­be­nen­falls wird über wei­te­re Emp­feh­lun­gen an das Gericht nachgedacht.“

Lösun­gen, die auf Gemein­schafts­kon­fe­ren­zen erar­bei­tet wur­den, sind bei­spiels­wei­se: „mate­ri­el­ler Scha­dens­er­satz, Zah­lung eines Geld­be­tra­ges an gemein­nüt­zi­ge Ein­rich­tung mit Bezug zur Tat, Geschenk an die geschä­dig­te Per­son, aus­drück­li­che Respek­tie­rung des ande­ren, Ein­la­dung zum Essen, Inan­spruch­nah­me der Hil­fe des Jugend­am­tes, Teil­nah­me an einem sozia­len Trai­nings­kurs oder Dro­gen-/Sucht­be­ra­tung, regel­mä­ßi­ges Sport­trai­ning über einen Zeit­raum von sechs Mona­ten, Prak­ti­kum auf der Arbeits­stel­le der geschä­dig­ten Per­son.“[12] Nicht immer zei­gen die Räte und Kon­fe­ren­zen das gewünsch­te Ziel, was auf ver­schie­de­ne Fak­to­ren zurück­zu­füh­ren ist – bei­spiels­wei­se, wenn dem*der Täter*in Unterstützer*innen fehlen.

Fazit

Wäh­rend des Pro­zes­ses beim Land­ge­richt Ulm ließ sich beob­ach­ten, dass die Unter­su­chungs­haft alle fünf Ange­klag­te emo­tio­nal beschäf­tig­te. Ob die­se Tat­sa­che einen Ein­fluss auf die poli­ti­sche Hal­tung der Ange­klag­ten hat­te oder als Abschre­ckung wirk­te, kann nicht umfas­send geklärt wer­den. Vor Gericht zeig­te ein Ange­klag­ter glaub­haft Reue. Die Akti­vi­tä­ten der ande­ren vier Ange­klag­ten nach dem Urteil las­sen dar­auf schlie­ßen, dass die­se sich unge­bro­chen und wei­ter­hin in rechts­extre­men Milieus bewe­gen oder Freund­schaf­ten dort­hin pfle­gen. Die Jugend­ge­richts­hil­fen hat­ten vor Gericht betont, dass eine mehr­ma­li­ge Auf­ar­bei­tung der Tat sinn­voll sei. Die Ver­ur­tei­lung zu einem zwei­stün­di­gen Tref­fen mit einem Dia­kon aus der Ver­söh­nungs­kir­che der KZ-Gedenk­stät­te Dach­au kann nur als Anre­gung zu ver­ste­hen sein. Eine tie­fer­ge­hen­de Aus­ein­an­der­set­zung wur­de und konn­te nicht ange­bo­ten wer­den. Ein Täter-Opfer Aus­gleich, der eine ernst­haf­te Aus­ein­an­der­set­zung mit der Tat bedeu­tet hät­te, war nicht mög­lich oder wur­de nicht in Betracht gezo­gen. Die Opfer waren nicht wohn­haft in Deutsch­land und konn­ten oder woll­ten dem Ver­fah­ren nicht per­sön­lich beiwohnen.

Den­noch lässt sich fest­stel­len, dass die Dorf­ge­mein­de geschul­ter mit einer erneu­ten mut­maß­li­chen rechts­mo­ti­vier­ten Tat in der Gemein­de umge­gan­gen ist. Die öffent­li­che Aus­ein­an­der­set­zung, die wäh­rend des Pro­zes­ses 2020 mit dem Bür­ger­meis­ter und dem Orts­vor­ste­hen und u.a. mit dem Ver­band Deut­scher Sin­ti und Roma, Lan­des­ver­band Baden-Würt­tem­berg (VDSR-BW), der die Opfer ver­tre­ten hat, geführt wur­de, hat zu einem Pro­blem­be­wusst­sein bei­getra­gen. Im Nach­gang zum Pro­zess erschie­nen Publi­ka­tio­nen, die heu­te in Poli­zei­fort­bil­dun­gen vom VDSR-BW genutzt wer­den. Es fan­den ver­schie­de­ne öffent­li­che Ver­an­stal­tun­gen statt, und ein Nach­rich­ten­sen­der der Min­der­heit, Rom­noK­her News, wur­de ins Leben geru­fen. Die Erfah­rung, dass das Gericht die Gül­tig­keit des­sen, was man gemein­hin Gerech­tig­keit nennt, für Ange­hö­ri­ge der Sin­ti- und Roma-Com­mu­ni­ty ach­te­te und eine Straf­tat dem­entspre­chend bewer­te­te, das wirkt über den kon­kre­ten Fall hin­aus als ein poli­ti­sches Signal in der Com­mu­ni­ty fort. 


[1]      Dische­reit, Cha­na (2024): Unver­öf­fent­lich­tes Manuskript.

[2]      Andre­asch, R. (2020). Unver­öf­fent­lich­tes Manuskript.

[3]      Ebenda

[4]      Amts­blatt der Stadt Erbach mit den Stadt­tei­len Bach, Dell­men­sin­gen, Donau­rie­den, Ersin­gen, Rin­gin­gen (07.10.2021): Erba­cher Nach­rich­ten, Num­mer 40 / Jahr­gang 62, Erbach S. 4.

[5]      Ebenda

[6]      Ebenda

[7]      Aus­führ­li­cher Bericht über die anti­zi­ga­nis­ti­sche Tat und deren Auf­ar­bei­tung kön­nen nach­ge­le­sen wer­den in der Stu­die von Oli­ver Decker und Elmar Bräh­ler (2020): Auto­ri­tä­re Dyna­mi­ken: Alte Res­sen­ti­ments – neue Radi­ka­li­tät, Leip­zi­ger Auto­ri­ta­ris­mus Stu­die, Gie­ßen S. 353 – 378.

[8]      Pren­zel et al., 2013, S. 148ff.

[9]      Kube, Edwin (1995): Gewalt­kri­mi­na­li­tät Jugend­li­cher. Mög­lich­kei­ten und Chan­cen der Gewalt­prä­ven­ti­on. In: Sozi­al­päd­ago­gik und Straf­rechts­pfle­ge. Gedächt­nis­schrift für Max Busch. In: Delin­quenz­päd­ago­gik und Rechts­er­zie­hung, Band 9, Pfaf­fen­wei­ler S. 235.

[10]    Kube, Edwin (1995): Gewalt­kri­mi­na­li­tät Jugend­li­cher. Mög­lich­kei­ten und Chan­cen der Gewalt­prä­ven­ti­on. In: Sozi­al­päd­ago­gik und Straf­rechts­pfle­ge. Gedächt­nis­schrift für Max Busch. In: Delin­quenz­päd­ago­gik und Rechts­er­zie­hung, Band 9, Pfaf­fen­wei­ler S. 235 – 236.

[11]    Tem­me, Gaby (2011): Braucht unse­re Gesell­schaft Stra­fe? Wel­che Alter­na­ti­ven gibt es im Ver­gleich zum deut­schen Straf­voll­zugs­sys­tem? In: Straf­voll­zug in Deutsch­land. Struk­tu­rel­le Defi­zi­te, Reform­be­darf und Alter­na­ti­ven, Ber­lin S. 37–61: https://www.humanistische-union.de/thema/braucht-unsere-gesellschaft-strafe-welche-alternativen-gibt-es-im-vergleich-zum-deutschen-strafvol/; zuletzt 28.08.2024.

[12]    Ebenda

Ein Beitrag von Chana Dischereit,
erstellt am 25.02.2025

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