Vom 27. bis zum 31. Juli 2022 besuchte zum ersten Mal eine offizielle Delegation des Beauftragten der Bundesregierung gegen Antiziganismus, Mehmet Daimagüler, die Ukraine, um sich vor Ort von der Lage der Roma, Antiziganismus und Diskriminierung ein eigenes Bild zu verschaffen sowie mit der ukrainischen Regierung über eine Verbesserung der Zustände zu sprechen.
Die Delegation des Beauftragten der Bundesregierung bestand aus Mehmet Daimagüler, Romeo Franz MdEP, dem VDSR-BW-Vorsitzenden Daniel Strauß, der als Co-Vorsitzender der Bundesvereinigung der Sinti und Roma sowie als Geschäftsführer von RomnoKher in diese Delegation gebeten worden war, sowie der Journalistin Alexandra Senfft.
In Kiew sprach die Delegation u.a. mit Dmytro Lubinets, dem Menschenrechtsbeauftragten und Ombudsmann des ukrainischen Parlaments, mit Olena Bohdan, Leiterin der für den Minderheitenschutz zuständigen Staatlichen Behörde der Ukraine für ethnische Politik und Gewissensfreiheit (DESS) sowie mit zahlreichen Vertreterinnen und Vetretern der romanessprachigen Zivilgesellschaft wie Roman Kondur vom Roma Women Fund Chiricli, Volodymyr Yakovenko von der Youth Agency for the Advocacy of Roma Culture (ARCA) sowie anderer NGOs wie Serhiy Ponomariov vom Roma Programme der International Renaissance Foundation. Gemeinsam mit der Botschafterin der Bundesrepublik Deutschland in der Ukraine, Anka Feldhusen, besuchte die Delegation das Holocaust-Denkmal Babyn Jar. Im dortigen Gedenkpark erinnert ein Mahnmal auch an die ermordeten Sinti und Roma. Auch Schauplätze des Krieges wie Irpin im Umland von Kiew wurden in Augenschein genommen.
Zuvor hatte die Delegation bereits in Uschhorod Überlebende des Holocaust besucht – unter ihnen Raisa Biriuchenko, Raisa Andreychenko, Nataliia Narysheva, Nataliia Shcherbak, Valentyna Lebedeva und Vira Biriuchenko. Dabei entschuldigte sich der Beauftragte der Bundesregierung gegen Antiziganismus bei den letzten Überlebenden des Völkermords an Sinti und Roma für die im deutschen Namen in ganz Europa begangenen Verbrechen. Außerdem wurden Gespräche mit Roma-Selbstorganisationen wie der Society of Roma of Transcarpathia (Towarystwo Romiw Sakarpatja) und dem Stadtrat und Minderheitenangehörigen Myroslav Horvát geführt.
Die letzte Station der Reise bildete die westukrainische Metropole Lviv. Dort besuchte die Delegation eines der 12 Lager in den umliegenden Wäldern, in die Roma aus der Ostukraine geflüchtet sind, weil sie andernorts im Land keine Zuflucht finden. In diesen Lagern leben bereits seit 30 Jahren Roma, denen die gesellschaftliche Teilhabe in der Ukraine angesichts eines stark verbreiteten und immer wieder auch mit tödlicher Gewalt zuschlagenden Antiziganismus verwehrt wird.
In diesen Lagern gibt es weder fließendes Wasser noch Elektrizität noch Energieversorgung. Tausende von Menschen, darunter viele Kinder, leben in selbst geschaffenen Behelfsunterkünften unter Zuständen, die an die Slums des Globalen Südens erinnern. Die Menschen haben sich dennoch ihre Würde bewahrt. Die etwa 30 Familien, die in dem besuchten der 12 Lager leben, dankten der Delegation für ihren Besuch. Hier sind Soforthilfemaßnahmen erforderlich, für die sich die Bundesrepublik dringend einsetzen muss.
Die Delegationsreise hat erschreckende Befunde zusammengetragen, die anzeigen, welche Hürden für die Ukraine auf dem Weg in die europäische Rechts- und Wertegemeinschaft noch zu überwinden sind. Der politische Wille, gegen den gesellschaftlichen Antiziganismus vorzugehen, war dabei nicht überall zu erkennen, doch erwies sich der Menschenrechtsbeauftragte Lubinets als zugewandter Gesprächspartner.
In der Ukraine leben nach Schätzungen etwa 400.000 Angehörige romanessprachiger Minderheiten, vor allem Roma. Einen Schwerpunkt bildet dabei die an Ungarn, die Slowakei und Rumänien angrenzende Region Transkarpatien im Westen des Landes. Roma sind nicht als nationale Minderheit anerkannt. Durch den Krieg ist ihre Lage noch prekärer geworden. Romanessprachige Menschen fliehen wie alle anderen vor dem Krieg in den Westen des Landes oder ins Ausland. Aber geflüchteten Roma wird kein Zugang zur regulären Flüchtlingshilfe in der Ukraine gewährt. Auch ausländische Hilfe für Flüchtlinge kommt bisher nicht bei Roma an. Weil einige nicht über Papiere verfügen, ist ihnen der Weg nach Europa versperrt. Problematisch ist auch, dass in der Ukraine kein Zivildienst möglich ist – etliche Roma gehören Freikirchen an und verweigern aus Gewissensgründen den Kriegsdienst.
Am Beispiel der Stadt Uschhorod lässt sich die Lage im Land skizzieren: Segregation ist der Lebensalltag von romanessprachigen Menschen in der Ukraine. Nur 15 Prozent aller Roma-Schüler/innen gehen auf eine Regelschule, 85 Prozent werden auf separate Roma-Schulen verwiesen, um die sie sich zudem finanziell und sogar handwerklich selbst kümmern müssen. Nach Elternprotesten gegen die Anwesenheit von Roma an regulären Schulen wurde in Uschhorod eine inoffizielle Vereinbarung getroffen: Jede reguläre Schulen nimmt pro Jahrgang nur maximal fünf Schülerinnen und Schüler aus Roma-Familien auf.
70 Prozent der romanesprachigen Bevölkerung lebt in segregierten Wohnvierteln oder Ghettos. Nur 30 Prozent leben in normalen Wohnvierteln unter anderen Ukrainern, müssen dabei jedoch oft ihre Roma-Identität verleugnen. Ähnliche Zahlen gelten für den Arbeitsmarkt. Die meisten Roma werden als “Billigstarbeiter” ausgebeutet. Ausgrenzung wird sowohl von der Mehrheitsbevölkerung als auch von der Minderheit zumeist als “normal” wahrgenommen.
Davon zeugt auch die gesundheitliche Situation. Corona-Impfaktionen fanden in den Siedlungsquartieren der Roma in Uschhorod nicht statt, viele Ärzte lehnen es ab, Impfdosen an Roma zu geben, und Krankenhäuser verweigern häufig die Aufnahme, wenn die Roma-Zugehörigkeit von Patienten erkannt wird.
Die Reise wurde von Daniel Strauß auf RomnoKher News dokumentiert. Der Besuch des Lagers im Wald bei Lviv ist im dritten Video festgehalten.