Vor mehr als einem Jahr begann der Angriffskrieg gegen die Ukraine. Unter den Millionen Flüchtlingen, die vor dem Krieg Schutz suchen, befinden sich Tausende ukrainischer Roma. In Baden-Württemberg werden seither besondere Anstrengungen unternommen, um auch den geflüchteten Roma die gleichberechtigte Teilhabe zu ermöglichen.
Um eine erste Bilanz zu ziehen und die Unterstützung für die Geflüchteten zu koordinieren, lud der Verband Deutscher Sinti und Roma, Landesverband Baden-Württemberg am 24. Juli 2023 zum Landeskongress der Sinti und Roma mit dem Themenschwerpunkt „Solidarität mit den aus der Ukraine geflüchteten Roma“ im Evangelischen Bildungszentrum in Stuttgart ein, an dem mehr als 120 Engagierte teilnahmen.
Daniel Strauß, Landesvorsitzender des Verbands Deutscher Sinti und Roma, und Dr. Ute Leidig, Staatssekretärin im Ministerium für Soziales, Gesundheit und Integration Baden-Württemberg, eröffneten den Landeskongress. Staatssekretärin Dr. Leidig betonte die Größe der Aufgabe, die Bereitschaft des Landes zum Engagement und die gute Zusammenarbeit mit dem VDSR-BW, dem im Rahmen des ReFIT-Programms (Regionale Förderung von Inklusion und Teilhabe) weitere Mittel des Landes und der Kommunen zur Verfügung gestellt werden sollen, um nicht nur die Erstintegration, sondern auch die Anschlussunterbringung und Integration der aus der Ukraine geflüchteten und vertriebenen Roma mit geeigneten Schulungs- und Beratungsmaßnahmen zu unterstützen.
Daniel Strauß berichtete eindrücklich von seiner Ukraine-Reise im Sommer 2022 und stellte die extrem prekäre Ausgangssituation dar, die die Geflüchteten hinter sich ließen: Zu Krieg und innerukrainischen Fluchtbewegungen kommen massiver Antiziganismus in der Ukraine, weitgehende Segregation, Abgeschnittensein vieler vom Bildungs- und Gesundheitssystem und verhinderte Zugänge zum Arbeitsmarkt hinzu. Mit diesen Herkunftsbedingungen muss auch die Arbeit mit den Geflüchteten rechnen. ReFIT wurde 2022 zu diesem Zweck auf die vor dem Krieg in der Ukraine in Baden-Württemberg Schutz suchenden Roma angepasst. Daniel Strauß bedankte sich für den großen Einsatz der vielen Engagierten im ganzen Land, die sich für geflüchtete Roma einsetzen, und bei der Landesregierung für die finanzielle Unterstützung und gute Zusammenarbeit.
Expertinnen und Experten aus der Minderheit der Sinti und Roma, unter ihnen auch aus der Ukraine geflüchtete Roma, sowie Vertreterinnen und Vertreter von Kommunen, Zivilgesellschaft und Institutionen, die Hilfe für Geflüchtete leisten, teilten auf dem Landeskongress ihre Erfahrungen, erörterten aktuelle Herausforderungen, stellten hilfreiche Handlungsansätze vor und erwogen langfristige Strategien. Zwei Impulsreferate lieferten wichtige Denkanstöße: Seán McGinley, der am ReFIT-Programm mitwirkt und beim Informationsverbund Asyl und Migration sowie dem Roma-Center Göttingen aktiv ist, zeigte in seinem Beitrag, was Selbstorganisationen wie der VDSR-BW leisten können und was nicht und mit welchen Erwartungen sie vor Ort konfrontiert werden.
Prof. Dr. Albert Scherr von der Pädagogischen Hochschule Freiburg, seit vielen Jahren als Experte auf diesem Feld tätig, plädierte für eine langfristige Strategie über die aktuellen, auf Krieg und Flucht bezogenen kurzfristigen Unterstützungsangebote hinaus. Nicht nur Schulungs- und Antidiskriminierungsmaßnahmen seien erforderlich, sondern auch eine 10 (oder mehr)-Jahres-Strategie in der Sozial‑, Arbeitsmarkt‑, Bildungs- und Wohnungspolitik. Der Schlüssel für eine erfolgreiche Integration und die Vermeidung einer dauerhaften Verfestigung diskriminierungsbedingter prekärer sozialer Lagen ist – was viele der am Landeskongress Teilnehmenden in ihren Statements bekräftigten – die intensive Unterstützung der schulischen und beruflichen Bildung von Kindern und Jugendlichen, die aus der Ukraine geflüchtet sind.
Über die größten Herausforderungen diskutierten Romeo Franz (EU-Abgeordneter), Ansgar Lottermann (Ministerium für Soziales, Gesundheit und Integration), Gari Pavkovic (Leitung der Abteilung Integrationspolitik, Landeshauptstadt Stuttgart), Yuliia Kondur (Roma-NGO Chiricli, Ukraine) und Lena Schmid (Flüchtlingsrat Baden-Württemberg).
Wirkungsvolle Handlungsansätze, die sich in den zurückliegenden Monaten bewährt haben, stellten Matthias Riemenschneider (Stabstelle Diakonische Grundsatzfragen, Diakonie Württemberg), Robert Kalderash (Roma-Mediator aus der Ukraine), Branislav Stoikov (Scutus Security), Dr. Anne Wenk (Stabstelle für Integration und gesellschaftliche Entwicklung im Landratsamt Rhein-Neckar-Kreis), Nadja Wenger (Sozialamt Stuttgart, Abteilung Sozialplanung, Sozialberichterstattung) und Iris Mack (Teamkoordination Flüchtlingsunterbringung und ‑betreuung im Landkreis Heidenheim) vor.
Langfristige Aufgaben und Strategien erörerten Daniel Lede Abal (MdL, Sprecher für Migration und Parlamentarischer Geschäftsführer der Fraktion Grüne im Landtag), Prof. Dr. Birgit Locher-Finke (Ministerium für Soziales, Gesundheit und Integration), Alexander Diepold (Geschäftsführer der Hildegard Lagrenne Stiftung und von Madhouse München), Claus Preißler (Beauftragter für Integration und Migration, Stadt Mannheim), Andrea Laux (Bürgerstiftung Stuttgart), Valeria Fedchenko (Sinti und Roma-Beauftragte im Landratsamt Rems-Murr-Kreis), Maria Söllner (Beauftragte für Integration, Stadt Leutkirch), Anne Bühler-Vogler (Anlaufstelle Pro Sinti und Roma e.V.) und Luisa Lindenthal (Erziehungswissenschaftlerin und Mediatorin, Freiburg). Der VDSR-BW war auf den Kongresspodien durch Daniel Strauß, Slavica Husseini und Jovica Arvanitelli, den Koordinator des ReFIT-Programms, vertreten. Die Moderation des gesamten Kongresses übernahm Prof. Dr. Claudia Barth von der Hochschule Esslingen.