Zilli Schmidt war von so zarter, kleiner, scheinbar zerbrechlicher Gestalt – aber sie war eine große historische Persönlichkeit. Sie war eine Jahrhundertzeugin. Und alle, die sie kennenlernen oder zumindest erleben durften, konnten ihr nur mit Liebe begegnen. Weil Zilli Schmidt allen Menschen Liebe entgegenbrachte.
Bei öffentlichen Auftritten vor großem Publikum, bei Gesprächen mit jungen Menschen und mit den Medien, zu Hause, wenn sie auf ihrem Sessel saß und die Besucher empfing, die sich auf den Schemel neben sie setzten, um ihr ganz nahe sein und ihre Hand halten zu können, selbst wenn sie mitten im Gespräch plötzlich wieder in Auschwitz war, wie sie so oft sagte, und noch in ihren allerletzten Tagen auf dem Krankenbett: Zilli Schmidt war zu unbegrenzter Liebe fähig. Sie war eine elegante Dame. Sie war eine Kämpferin für Recht und Erinnerung. Und sie war eine große Liebende. Sie liebte die Menschen.
Das war ihre unbegreifliche Begabung, sie hätte es Gabe oder Geschenk Gottes genannt. Sie hat so Schönes erlebt, eine glückliche Kindheit in der Weimarer Republik und noch in den ersten Jahren der NS-Diktatur, später vor allem, ungeachtet der nächtlichen Rückkehr nach Auschwitz, mit ihrem Mann Toni, der nicht nur mit seiner Musik und seinen Kochkünsten die Freude ihres Lebens nach 1945 war.
Und Zilli Schmidt hat das Schrecklichste erlebt, Auschwitz-Birkenau, von März 1943 bis zum 2. August 1944, als sie ins Konzentrationslager Ravensbrück verlegt wurde. An diesem Tag wurden ihre Tochter Gretel, ihr Vater und so viele andere aus ihrer großen Familie ermordet, in den Gaskammern erstickt.
Zilli Schmidt konnte von alldem Zeugnis ablegen – von den Schrecken, die sie jede Nacht heimsuchten. Von dem Bild ihres Vaters, das sie verfolgte. Von ihrer geliebten vierjährigen Gretel, die ihr in Auschwitz sagte: „Mama, Mama, da hinten werden wieder die Menschen verbrannt.“
Aber sie legte auch Zeugnis ab von ihrer wiederholten Flucht aus den Lagern, von ihrem Widerstand gegen die nationalsozialistischen Täter und ihre Helfer aus so vielen Nationen, von ihrem Kampf um das Überleben der Familie, die sie im Lager mit Essen versorgte.
Und sie erzählte so gern über ihre Kindheit, über das Gerangel mit ihrem Bruder Hesso um die Geige, und wie stolz sie war, dass ihr Vater immer sagte: „Lass mein Mädchen spielen, die hat bessere Ohren als du.“ Oder über das Wanderkino, mit dem sie die Dörfer bereisten und beglückten. Wenn sie mit ihrem hochmodernen Lanz Bulldog und ihren Wohnwagen kamen, war das die Sensation weit und breit, alle im Ort waren aus dem Häuschen, wollten „Dick und Doof“ oder andere Filme der 1920er Jahre sehen. Wie herrlich der Wagen war, in dem sie lebten, der Emaille-Ofen, Zilli konnte lange und gern darüber reden. Zugleich hatte die Familie eine Wohnung in Eger. Dort blieb auch die ganze Zeit des Völkermords hindurch der Wagen unberührt stehen, aus dem Zilli unmittelbar nach dem Krieg das Kostbarste, was sie bis zu ihrem Lebensende besaß, bergen konnte – die Bilder ihrer Familie und ihrer Gretel.
Sie berichtete gern von den Freundschaften ihrer Familie mit anderen Deutschen, was ihren Vater noch 1938 oder 1939 hoffen ließ: „Der Hitler bringt doch nur die Verbrecher weg.“ Da war die gemeinsame Geschichte von Deutschen, die Sinti waren, und Deutschen, die keine Sinti waren, schon zerstört. Sie endete in der Vernichtung der europäischen Sinti und Roma, der bis 1945 Hunderttausende zum Opfer fielen.
Zilli Schmidt überlebte. Sie wollte leben, anfangs auch vergessen, sie versuchte ohne Erfolg, ihre Nummer aus Auschwitz Z‑1959 zu entfernen. Aber immer mehr wollte sie sich erinnern, sie trat vor Gericht auf als Zeugin gegen NS-Verbrecher. Sie ließ sich von jungen Menschen befragen und redete ihnen ins Gewissen, Unrecht entgegenzutreten und Mut zu zeigen. Von ihrer Biographie sind junge Leute jeder Altersstufe und mit jeglichem Hintergrund berührt. Zilli war für die junge Generation ein Star. Und sie hat uns allen ein wundervolles Erinnerungsbuch hinterlassen, aus dem auf jeder Seite ihre unverwechselbare Stimme zu uns spricht.
Den Großen und vermeintlich Großen gegenüber, in der Gesellschaft genauso wie auch in der eigenen Community, nahm sie kein Blatt vor Mund. Sie sagte immer und jedem, was sie dachte. Sie war von absoluter Unbestechlichkeit und Unabhängigkeit. Aber sie konnte auch begeistert loben, ihre Liebe zeigen, wenn sie einen guten Menschen erkannte.
Am 2. August 2021 sammelte sie noch einmal für eine Reise nach Berlin ihre Kräfte, um das Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas in einer öffentlichen Intervention zu verteidigen. Als ihr am 21. Januar 2022 das Bundesverdienstkreuz verliehen wurde, war sie glücklich: Das Land, zu dem sie schon immer gehörte und das sie dennoch hatte ermorden wollen, ehrte sie und ihren Kampf nun mit seiner höchsten Auszeichnung. Das Jahrhundert der Jahrhundertzeugin gipfelte, aller Sorge um wachsende Unmenschlichkeit zum Trotz, in einem einzigartigen Augenblick des Glücks.
Welch bedeutende historische Persönlichkeit mit Zilli Schmidt von uns gegangen ist, lässt sich auch daran ermessen, dass der Bundespräsident seine Rede zum zehnjährigen Bestehen des Denkmals für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas am 24. Oktober 2022 mit einer Würdigung Zilli Schmidts einleitete.
Am 21. Oktober 2022 ist das lange Leben von Zilli Schmidt im Alter von 98 Jahren zu Ende gegangen. Sie war eine Kämpferin voller Mut und Mitgefühl für andere, für das Gute, für Gerechtigkeit. Sie war uns ein großes Vorbild und eine wunderbare Freundin. Sie war der faszinierendste Mensch, dem wir je begegnet sind. Bis zu ihrem letzten Tag hatte sie die Ruhe und das Vertrauen, die aus tiefem Glauben kommen. Wir trauern mit ihrer Familie, mit Renate Franz und allen anderen Angehörigen.
Die Trauerfeier findet am Donnerstag, dem 27. Oktober 2022, um 15 Uhr auf dem Mannheimer Hauptfriedhof statt. Vertreterinnen und Vertreter aus Politik und Zivilgesellschaft haben ihr Kommen angekündigt, um Zilli Schmidt die letzte Ehre zu erweisen.