Pressemitteilung vom 5. September 2013
Kritik am Jahresgutachten des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR): „SVR trifft unzulässige Aussagen über ,die Gruppe der Roma‘„
In seinem aktuellen Jahresgutachten, den der Sachverständigenrat am 12. April 2013 dem Bundespräsidenten Joachim Gauck überreicht hat, befasst er sich unter anderem mit der „Gruppe der Roma“ und den durch sie entstehenden „Herausforderungen durch die Zuwanderung neuer ,Minderheiten’“. An diesem Freitag stellt der SVR sein Gutachten in einer öffentlichen Podiumsveranstaltung zur Diskussion. „Dabei sollte dringend auch über die fragwürdigen Äußerungen und Schlussfolgerungen zu Sinti und Roma verhandelt werden, die darin enthalten sind“, erklärt dazu Daniel Strauß von dem Netzwerk Inklusion durch Bildung RomnoKher. „Die davon abgeleiteten Empfehlungen sind wenig hilfreich und zudem in sich widersprüchlich.“
„Dem Sachverständigenrat gelingt in seinem Jahresgutachten eine umfassende und gut differenzierte Darstellung der aktuellen Situation der Roma und der Sinti in Deutschland. Umso unverständlicher ist der Versuch, Handlungsvorschlägen auf unzulässig verallgemeinerte Lebensentwürfe von Roma aufzubauen. Es gibt sie in der dort beschriebenen Weise schlichtweg nicht: die Roma.“ Zum Hintergrund: Unter dem Titel Erfolgsfall Europa? Folgen und Herausforderungen der EU-Freizügigkeit für Deutschland wird im Jahresgutachten die Prognose erstellt, dass ab 2014 verstärkt Roma einwandern werden, wenn Rumänen und Bulgaren einen freien Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt haben. Diese Form der Zuwanderung sei „in der Regel keine Arbeits,- sondern eine Armutszuwanderung“. Zwar warnt der SVR vor Antiziganismus und weist auf eine problematische Ausgrenzung und Diskriminierungen von deutschen Sinti und Roma hin. „Doch gleichzeitig bestätigt er in seiner wichtigsten Publikation Stereotype und Klischees“, sagt Daniel Strauß.
So heiße es beispielsweise unter Berufung auf ein Einzelgutachten von Dr. Ute Koch:
„Zwar sind Stigmatisierungen und Diskriminierungen in einem ,Zusammenspiel von politischen und rechtlichen Strukturen, öffentlichen Diskursen, ethnisierenden und schichtbezogenen Eigenschaftszuschreibungen im Kontext des Handelns und der Routinen von Organisationen’ (…) fest verankert. Dem stehen aber (…) spezifische Lebensentwürfe und Selbstpräsentationen gegenüber, denn manche Roma berufen sich bewusst und explizit auf ihre sozialen Traditionen, Werte und Strukturen, die sich von denen der jeweiligen Mehrheitsbevölkerung unterscheiden. In diesem Zusammenhang ist besonders die Familie hervorzuheben, die bei der Gruppe der Roma eine zentrale Bedeutung hat. Daraus ergeben sich spezifische Bedingungen für die Realisierung von Integrationschancen.“ (S. 133)
Schließlich formuliert der Sachverständigenrat nicht zutreffende Verallgemeinerungen in seiner Beschreibung der „Lebensentwürfe von Roma“:
„Integration im Sinne von Teilhabe an gesellschaftlich entscheidenden Bereichen und Ausrichtung des individuellen Verhaltens an den „lebensperspektivischen Standarderwartungen der modernen Gesellschaft“ ist mit den Lebensentwürfen der Roma, die stark von innerer Bindung oder gar „familiären Vergemeinschaftungsansprüchen“ (Koch 2012: 16) geprägt sind, kaum vereinbar. Eine staatliche Integrationspolitik, die im Sinne des SVR als Partizipationsförderung verstanden wird, setzt aber diese Orientierung an den Standarderwartungen gerade im Bildungsbereich und auf dem Arbeitsmarkt voraus. Das macht ihre Aufgabe umso schwieriger.“ (S. 134)
Ausgehend von diesen Beschreibungen stimmt der SVR der Regierungshaltung zu, die bislang eine Nationale Strategie zur Romainklusion ablehnt, weil diese „zur (weiteren) Selbst- und Fremdethnisierung“ beitragen würde. Gleichzeitig reichten die bestehenden Angebote für „die Gruppe der Roma“ nicht aus, „denn der integrationspolitische Handlungsbedarf ist dramatisch und die Gruppe der Roma aufgrund ihrer beschriebenen Lebensstrategien nur eingeschränkt erreichbar“.
Dazu erklärt RomnoKher: Nach den 10 gemeinsamen Grundprinzipien der EU zur Inklusion der Roma sollen die vorgenommenen Interventionen explizit aber nicht exklusiv („explicit, but not exclusive“) sein. Ohne eine expliziete Strategie bzw. explizite Massnahmepakete kann der dramatische integrationspolitische Handlungsbedarf – wie auch vom SVR erwähnt – nicht bewältigt werden. Gleichzeitig empfiehlt die Europäische Union, weitere diskriminierte oder unterstützungsbedürftige Zielgruppen in die für Roma konzipierten Massnahmen einzubeziehen, um die vom SVR vermutete ethnische Re-Segregation der Zielgruppe zu verhindern.
„Einerseits sollen die Massnahmen nicht an alle Roma adressiert werden, andererseits seien die Roma nur über ihre Vertretungen erreichbar – das ist eine heikle Botschagft“, erklärt Daniel Strauß. Die Kooperation mit Roma-Selbstorganisationen sei ebenfalls eine der 10 EU-Grundprinzipien, müsse allerdings um zivilgesellschaftliche Organisationen erweitert werden, in denen Roma und Nichtroma gemeinsam für eine Verbesserung der Bildungs-, Arbeits- und Lebensverhltnisse wirken. „Solche Kooperationen können jedoch keinesfalls – wie vom SVR empfohlen – ein politisches Zutun auf Bundes- oder Landesebene ersetzen“, sagt Daniel Strauß.