Zehn Jahre nach der ersten RomnoKher-Studie legt die RomnoKher gGmbH mit Unterstützung der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ (EVZ) eine neue Studie zur aktuellen Lage der Sinti und Roma in Deutschland vor. Der VDSR-BW ist alleiniger Gesellschafter der RomnoKher gGmbH. Eine bundesweite Arbeitsgemeinschaft von RomnoKher hat dafür 61 Interviewerinnen und Interviewer aus der Minderheit einbezogen und ein Team von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschiedener Hochschulen und aus der Praxis aufgebaut, von denen etwa die Hälfte selbst der Minderheit angehören. Von über 700 durchgeführten internetgestützten Befragungen zwischen September und Dezember 2020 wurden nach sorgfältiger Prüfung 614 Interviews mit einheimischen und zugewanderten Roma und Sinti aus allen Bundesländern ausgewertet. Die Befragten wurden mit Hilfe einer Kombination aus Zufalls- und Schneeballprinzip aus etwa 3500 Personen ausgewählt, um die Signifikanz der Daten zu erhöhen. Die Interviewer aus dem gesamten Bundesgebiet waren dafür wegen der Pandemie größtenteils telefonisch oder online im Einsatz. Dabei wurden bis zu 100 Fragen aus den Bereichen Familiensituation, Bildungssituation, Diskriminierungserfahrungen, Beschäftigung, Wohnsituation, Traumatisierung und Einschätzungen zur gesellschaftlichen Entwicklung und zu Handlungsbedarfen gestellt. Eine Aufzeichnung der Vorstellung der Studie finden Sie auf unserem Youtube-Kanal RomnoKher.
Vor zehn Jahren hatte bereits die RomnoKher-Studie 2011 mit 261 ausgewerteten Interviews die Bildungsbenachteiligung deutscher Sinti und Roma plausibel aufzeigen können. Sie führte u.a. zur Einrichtung eines bundesweiten Arbeitskreises zur gleichberechtigten Bildungsteilhabe von Roma und Sinti in Deutschland (2013–2015), der Gründung der Hildegard Lagrenne Stiftung für Bildung, Inklusion und Teilhabe von Sinti und Roma in Deutschland und der Einrichtung eines Förderprogramms der Stiftung EVZ zur Förderung von Bildungsprojekten von Roma- und Sinti-Selbstorganisationen.
Damals wie heute waren alle Interviewer Angehörige der Minderheit, und die Verantwortung für die Durchführung der Studie lag entsprechend einer Verabredung mit Bundesministerien, Ländern und Selbstorganisationen zu Standards bei der Datenerhebung zur Bildungssituation von Roma und Sinti in Deutschland (Bundesweiter Arbeitskreis 2015) bei einer Selbstorganisation der Sinti und Roma. Damit werden den wegen der Verwicklung von wissenschaftlicher Forschung in die Verfolgung und Ermordung von Roma und Sinti im Nationalsozialismus nach wie vor bestehenden Ängsten und Vorbehalten vieler Angehöriger und Vereine der Minderheit in Deutschland Rechnung getragen.
Als die EU-Kommission 2011 alle Mitgliedstaaten aufforderte, nationale Strategien zur Verbesserung der Lage der Sinti und Roma mit gezielten Förderprogrammen, deren Erfolge überprüfbar sind, einzurichten, lehnte die Bundesregierung eine Teilnahme u.a. mit der Begründung ab, dass keine Daten zur Lage der Sinti und Roma in Deutschland zur Verfügung stünden. Im Rahmen der EU-Ratspräsidentschaft hat Deutschland 2020 den neuen strategischen EU-Rahmen für Gleichstellung, Inklusion und Partizipation von Sinti und Roma für 2020–2030 verabschiedet und nach wie vor keine Daten zur Lage der Sinti und Roma in Deutschland erhoben. Die Ergebnisse der RomnoKher-Studie 2021 belegen die gestiegenen Erwartungen und Potentiale der Minderheit und auch die extreme Benachteiligung im Bildungsbereich, die durch die von der Bundesregierung bevorzugten unspezifischen (Mainstream-)Fördermaßnahmen bisher nicht ausgeglichen werden konnte. Nicht nur die Zahlen unterstreichen die Notwendigkeit gezielter Fördermaßnahmen. Auch 80% der Befragten selbst halten solche Maßnahmen im Bildungsbereich für notwendig.
Die Stärkung des Selbstbewusstseins in der Minderheit als Ergebnis der Empowerment-Strategie der Bürgerrechtsbewegung zeigt sich in den überwiegend positiven und sehr positiven Feedbacks von Interviewern und Befragten zur Befragung selbst. Ebenso wie 2011 ermittelt die Studie nach wie vor extrem hohe Angaben zur Diskriminierung: Etwa 40% der Befragten mit Kindern haben angegeben, dass ihre Kinder Diskriminierungserfahrungen gemacht haben (davon ca. 60% mit Gewalt, ca. 40% im Unterricht, ca. ein Drittel von Lehrkräften), und etwa zwei Drittel der Befragten fühlen sich im heutigen Leben wegen ihrer Zugehörigkeit diskriminiert, davon ca. 80% auch im Bildungssystem.
Deutlich sichtbare Veränderungen ergeben sich beim Vergleich der Altersgruppen: Haben noch über 50% der über 50-Jährigen und knapp ein Drittel der über 30–50-Jährigen die Schule ohne Abschluss verlassen, sind es bei den unter 30-Jährigen etwa 15% (Gesamtbevölkerung unter 5%). Das Abitur als Schulabschluss erreichen etwa 2% der über 50-Jährigen, bereits 10% der 30–50-Jährigen und knapp 15% der unter 30-Jährigen (Gesamtbevölkerung 40%). Stagniert hat hingegen die Anzahl der Personen ohne beruflichen Abschluss (knapp 80% der über 50-Jährigen und etwa 40% der 18–30- und 30–50-Jährigen). Zum kulturellen Selbstverständnis gehört bei 85% der Befragten, Romanes, die Sprache der Roma und Sinti, zu sprechen und zu pflegen. Knapp 90% haben Romanes zu Hause gelernt und mehr als 80% bringe ihren Kindern zu Hause Romanes bei. Knapp ein Viertel der Befragten spricht mindestens drei Sprachen.
Hier finden Sie eine Zusammenfassung wichtiger Ergebnisse der RomnoKher-Studie 2021: RomnoKher-Studie 2021 – Zusammenfassung.
Die Studie kann unter info@romnokher.de angefordert werden.
Themen & Autor/innen, 1. Auflage (Februar 2021):
Dr. Karin Cudak, Europa-Universität Flensburg / Dr. Iulius Rostas, Visiting Professor, National School of Political and Administrative Studies, Bukarest, ehem. Leiter des Romani Studies Program der Central European University, Budapest: „Bildungssituation(en) von Sinti und Roma im deutschen Bildungssystem 2020“
Dr. Sebastian Starystach, Max-Weber-Institut für Soziologie, Universität Heidelberg: „Methodenbeschreibung“
Dr. Frank Reuter, Forschungsstelle Antiziganismus, Universität Heidelberg: „Antiziganismus und Bildungsgeschichte“
Dr. Christian Brüggemann, Graduiertenkolleg Inklusion – Bildung – Schule, Humboldt-Universität zu Berlin: „Internationale Einordnung der Ergebnisse“
Alexander Diepold, Sozialpädagoge und Geschäftsführer der Hildegard Lagrenne Stiftung (HLS) / Christoph Leucht, wissenschaftlicher Mitarbeiter der HLS: „Ansätze und Perspektiven zur Verbesserung der Bildungssituation“
Prof. Dr. Albert Scherr, Institut für Soziologie, Pädagogische Hochschule Freiburg: „Die Bedeutung unterschiedlicher Lebenslagen von Sinti und Roma für Strategien zur Verbesserung der Bildungssituation“
Themen & Autor/innen, Ergänzungen 2. Auflage (voraussichtlich Herbst 2021)
Dr. Nicoleta Bitu: „Genderperspektiven auf die Ergebnisse der Studie“
Sara Paßquali: „Diskriminierung als Bildungsbarriere“
Jovica Arvanitelli / Christine Bast / Dr. Andreas Hoffmann-Richter: „RomnoKher-Projekte gegen Diskriminierung und Beispiele aus der Praxis“
David Strauß: „Sprachenvielfalt und Romanes(lernen)“
Dr. Joanna Talewicz-Kwiatkowska / Dr. Małgorzta Kołaczek: „Zur Bedeutung intergenerationeller Einfluss von Traumatisierung“
Die RomnoKher gGmbH ist eine seit 2007 bundesweit tätige Selbstorganisation der Sinti und Roma in Deutschland, die 2011 die erste eigene Studie zur Bildungssituation der deutschen Sinti und Roma (RomnoKher-Studie 2011) durchführte. Romnokher betreibt seit 2014 in Mannheim ein Haus für Bildung, Kultur und Antiziganismusforschung und gründete 2017 die Bundesarbeitsgemeinschaft RomnoKher mit dem Ziel, ein bundesweites Netzwerk von Selbstorganisationen zur Förderung von Kultur und Bildung aufzubauen.